EIGENZEIT 2020/2021
Musik von Jetzt
Mit
Eigenzeit gründen die Duisburger Philharmoniker ein neues Festival für zeitgenössische Kammermusik.
In ungewöhnlichen Konzertformaten und an außergewöhnlichen Spielorten versammeln wechselnde Kuratoren das Beste, Verrückteste und Schönste, was die Musik von Jetzt dem Publikum von Heute zu bieten hat.
International vergebene Kompositionsaufträge, Ur- und Erstaufführungen sowie Grenzgänge in benachbarte Disziplinen bringen die ganze Vielfalt gegenwärtiger Kunstmusik in unsere Stadt. Gemeinsam mit hochkarätigen Gästen laden die Mitglieder der Duisburger Philharmoniker Sie ein, sich zu neuen und unerhörten Klangabenteuern verführen zu lassen.
In der Spielzeit 2020/2021 kuratierte der Komponist Hauke Berheide mit uns das Festival.
Die Texte zum Eigenzeit-Festival 2022 finden Sie hier >>
2021
Von tanzenden Tischen und singenden Dingen
Aus den „Dingen“ wollte Joseph von Eichendorff einst das „Lied“ erwecken, „das da träumte, fort und fort“, mittels Zauberworten, Wünschelruten, Geisterbeschwörungen – andere, tatkräftiger, mittels der „Laterna Magica“, jener frühen Projektionsmaschine, die durch bemalte und beleuchtete Glasscheibchen Bilder auf Wände, Dampf und Nebel werfen konnte. Die Wende zum 19. Jahrhundert war die große Zeit der Phantasmagorie, und die Geister und Seelen der Toten warteten nur so darauf, beschworen zu werden.
Uns Heutigen scheint solche Metaphysik überwunden. Wir meinen zu wissen, dass jene optischen Apparaturen vor allem die Fantasie der Betrachter in Gang gesetzt hätten. Die beschworenen Gespenster der Phantasmagorie seien, so scheint es uns, reine Projektionen der Zuschauer gewesen.
Doch schon Karl Marx hat erkannt, dass im Kapitalismus die Geister an anderer Stelle wiederauftauchen: in den Dingen selbst nämlich, sobald sie zur Ware werden. Das Metaphysische, die geisterhaften Eigenschaften der Waren werden diesen unwissentlich von den Menschen zugeschrieben, als dem Menschen entfremdete, abgespaltene Gespinste. Er schreibt: „Aber sobald er [der Tisch] als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.“ (Karl Marx, „Das Kapital“, 1867). Peter Sloterdijk hat hierfür die Formulierung gefunden, die Dinge seien „verzauberte Menschen“, also gefrorene und verborgene Lebenszeit, Arbeitskraft, Geschichte, Erfindungsreichtum.
Diese „verzauberten Menschen“ musikalisch wieder aufzuspüren, setzen wir uns in diesem Jahr in der Eigenzeit zum Ziel. Spielerisch, verträumt, geradezu kindlich wollen wir dem Eigensinn der Objekte nachlauschen, kammermusikalisch sozusagen Geister beschwören, um zuletzt den Mitmenschen im Ding zu entdecken und für die Dauer eines Ohrenblickes zu befreien. Duisburg ist als alte Industriestadt der angemessene Ort dazu, gleitet hier doch inzwischen Industrie- und Warengeschichte vor aller Augen ins Nostalgische ab. Wer sich offenen Ohres durch die Stadt treiben lässt, wird die Anwesenheit der Geister kaum überhören können. Ob Konzerte, Ausstellungen, Liedertafeln in der Innenstadt und in Ruhrort: „Von tanzenden Tischen und singenden Dingen“ ist ganz lokal. Musik von heute, für Menschen in Duisburg im Jahr 2021.
Komponist*innen

Violeta Cruz
Rieselndes Wasser, dirigierendes Spielzeug: Installationen, Konzertstücke und Musiktheater für die Opéra de Lille, das Centre Pompidou, in Südamerika und Europa. Villa Medici 2013. Studium am Pariser Konservatorium (Stefano Gervasoni) und am IRCAM. *1986 in Bogotá, Kolumbien.

Sivan Eldar
„Strahlend poetisch“, „ätherisch leuchtend“ – beim Festival d’Aix-en-Provence, in der Boston Symphony Hall, der Philharmonie Luxembourg, der Opéra de Lille. Vielfach ausgezeichnet. Studium am New England Conservatory, an der UC Berkeley, am IRCAM. *1985 in Tel Aviv.

Rene Orth
Theatralität, Zugänglichkeit, Witz. Composer in Residence der Opera Philadelphia. Pennsylvania Ballet, Summerville Orchestra, das Festival d’Aix en Provence, die Washington National Opera. Opera America Discovery Grant 2016. Studium am Curtis Institute of Music. *1985 in Dallas, Texas.

Matthias Schriefl
Jazzkomponist, Bandleader, Multiinstrumentalist. Mit seinen Bands und als Solist überall in Europa zu erleben. Verarbeitet Volksmusiken vom Allgäu bis Afghanistan. Preis der deutschen Schallplattenkritik 2012, Förderpreis NRW 2008. Studium in Köln und Amsterdam. *1981 in Maria Rain.

Sarah Nemtsov
Stilistische Vielfalt, internationaler Erfolg: in Bregenz, Donaueschingen, MaerzMusik, ECLAT, Holland Festival, Wien Modern, Israel Festival, Bayerische Staatsoper. Busonipreis 2013, Villa Serpentara 2011. Studium bei Johannes Schöllhorn und Walter Zimmermann. *1980 in Oldenburg.

Hauke Berheide
Oper steht im Zentrum. Arbeiten für die Bayerische Staatsoper, Oper Frankfurt, Duisburger Philharmoniker, Ensemble Modern, Hugo-Wolf-Akademie u. a. Festspielpreis Bayerische Staatsoper 2016, Rompreis 2012, Music Theater Now 2012, Förderpreis NRW 2008. Studium bei Manfred Trojahn. *1980 in Duisburg.

Ulrich A. Kreppein
Klangsinnlich, komplex, expressiv. Carnegie Hall NY, Orchestre national de Belgique, SWR-Orchester Stuttgart, Staatstheater Oldenburg, Ensemble intercontemporain. Siemensförderpreis 2012, Cité des Arts 2018. Studium u.a. bei Manfred Trojahn, Tristan Murail und Helmut Lachenmann. *1979 in Leverkusen.

Jérôme Combier
Erkundet Literatur, verlassene Polarforschungsstationen, das moderne Tokyo. Opern, Konzerte, Installationen. Festival d’Aix-en-Provence, Centre Pompidou, Opéra de Lille, Opéra de Lyon. Villa Medici Stipendium 2004-2006. Studium bei Emmanuel Nunes. *1971 in Boulogne-Billancourt.

Régis Campo
Spielerisch, rhythmisch-energetisch, melodisch: International gefeiert und gespielt von Kent Nagano bis Felicity Lott, der Opéra national du Rhin bis zum Beethovenfest Bonn, von Montreal bis Brüssel. Mitglied der Académie des Beaux-Arts. Studierte u.a. bei Gérard Grisey. *1968 in Marseille.

Lucia Ronchetti
Eine der renommiertesten Komponist*innen unserer Zeit. Musiktheater und Action Concert Pieces, sprühend vor Esprit und Lust an der Komplexität. Staatsopern Stuttgart, Berlin, Biennale Musica Venezia, Semperoper, Teatro la Fenice, Oper Frankfurt. Studium u.a. bei Salvatore Sciarrino, Gérard Grisey. *1963 in Rom.

Chaya Czernowin
Ihre feinnervigen Erkundungen des Unbewussten begeistern bei den Salzburger Festspielen, in der Philharmonie de Paris, Deutsche Oper Berlin, Lucerne Festival. Siemensförderpreis 2003. Lebt in Japan, den USA und Deutschland. Studium u.a. bei Brian Ferneyhough in Berkeley. *1957 in Haifa.

Kaija Saariaho
Finnische Spektralistin von Weltruf. Berliner Philharmoniker, Metropolitan Opera, Opéra Bastille, New York Philharmonic. Grawemeyer Award 2000, Musikpreis des Nordischen Rates 2000, Polar Music Prize 2013. Studium bei Magnus Lindberg, Brian Ferneyhough. *1952 in Helsinki.