EIGENZEIT 2020/2021

Musik von Jetzt

Mit Eigenzeit gründen die Duis­burger Phil­harmoniker ein neues Festival für zeit­genössische Kammermusik.

In ungewöhnlichen Konzert­formaten und an außer­gewöhnlichen Spiel­orten versammeln wechselnde Kuratoren das Beste, Verrückteste und Schönste, was die Musik von Jetzt dem Publikum von Heute zu bieten hat.

International vergebene Kompo­sitions­auf­träge, Ur- und Erst­auffüh­rungen sowie Grenz­gänge in benachbarte Diszi­plinen bringen die ganze Viel­falt gegen­wärtiger Kunst­musik in unsere Stadt. Gemeinsam mit hoch­karätigen Gästen laden die Mit­glieder der Duis­burger Phil­harmoniker Sie ein, sich zu neuen und uner­hörten Klang­aben­teuern verführen zu lassen.

In der Spielzeit 2020/2021 kuratierte der Komponist Hauke Berheide mit uns das Festival.

Die Texte zum Eigenzeit-Festival 2022 finden Sie hier >>

Die Konzerte

Die folgenden Konzerte sind wegen der Corona-Krise auf neue Termine verschoben worden:

Leider mussten diese Veranstaltungen abgesagt werden:

Zeichnungen: Andrea Winkler

2021
Von tanzenden Tischen und singenden Dingen

Aus den „Dingen“ wollte Joseph von Eichendorff einst das „Lied“ erwecken, „das da träumte, fort und fort“, mittels Zauber­worten, Wünschel­ruten, Geister­beschwö­rungen – andere, tat­kräftiger, mittels der „Laterna Magica“, jener frühen Projek­tions­maschine, die durch bemalte und beleuchtete Glas­scheib­chen Bilder auf Wände, Dampf und Nebel werfen konnte. Die Wende zum 19. Jahr­hundert war die große Zeit der Phantas­magorie, und die Geister und Seelen der Toten warteten nur so darauf, beschworen zu werden.

Uns Heutigen scheint solche Meta­physik über­wunden. Wir meinen zu wissen, dass jene optischen Appara­turen vor allem die Fantasie der Betrachter in Gang gesetzt hätten. Die beschwo­renen Gespenster der Phantas­magorie seien, so scheint es uns, reine Projek­tionen der Zuschauer gewesen.

Doch schon Karl Marx hat erkannt, dass im Kapita­lismus die Geister an anderer Stelle wieder­auf­tauchen: in den Dingen selbst nämlich, sobald sie zur Ware werden. Das Meta­physische, die geister­haften Eigen­schaften der Waren werden diesen unwissent­lich von den Menschen zuge­schrieben, als dem Menschen ent­fremdete, abge­spaltene Gespinste. Er schreibt: „Aber sobald er [der Tisch] als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinn­lich über­sinn­liches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegen­über auf den Kopf und ent­wickelt aus seinem Holz­kopf Grillen, viel wunder­licher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.“ (Karl Marx, „Das Kapital“, 1867). Peter Sloterdijk hat hierfür die Formu­lierung gefunden, die Dinge seien „verzau­berte Menschen“, also gefro­rene und verbor­gene Lebens­zeit, Arbeits­kraft, Geschichte, Erfindungsreichtum.

Diese „verzauberten Menschen“ musikalisch wieder aufzuspüren, setzen wir uns in diesem Jahr in der Eigen­zeit zum Ziel. Spiele­risch, verträumt, geradezu kind­lich wollen wir dem Eigen­sinn der Objekte nach­lauschen, kammer­musika­lisch sozu­sagen Geister beschwören, um zuletzt den Mit­menschen im Ding zu entdecken und für die Dauer eines Ohren­blickes zu befreien. Duis­burg ist als alte Industrie­stadt der ange­messene Ort dazu, gleitet hier doch inzwischen Indus­trie- und Waren­geschichte vor aller Augen ins Nostal­gische ab. Wer sich offenen Ohres durch die Stadt treiben lässt, wird die Anwesen­heit der Geister kaum über­hören können. Ob Konzerte, Aus­stellungen, Lieder­tafeln in der Innen­stadt und in Ruhr­ort: „Von tanzenden Tischen und singenden Dingen“ ist ganz lokal. Musik von heute, für Menschen in Duisburg im Jahr 2021.

Komponist*innen


Violeta Cruz
Rieselndes Wasser, dirigie­rendes Spiel­zeug: Installa­tionen, Konzert­stücke und Musik­theater für die Opéra de Lille, das Centre Pompidou, in Südamerika und Europa. Villa Medici 2013. Studium am Pariser Konser­vatorium (Stefano Gervasoni) und am IRCAM. *1986 in Bogotá, Kolumbien.


Sivan Eldar
„Strahlend poetisch“, „ätherisch leuch­tend“ – beim Festival d’Aix-en-Provence, in der Boston Symphony Hall, der Phil­harmonie Luxembourg, der Opéra de Lille. Viel­fach ausge­zeichnet. Studium am New England Conservatory, an der UC Berkeley, am IRCAM. *1985 in Tel Aviv.


Rene Orth
Theatralität, Zugäng­lich­keit, Witz. Composer in Resi­dence der Opera Philadelphia. Pennsyl­vania Ballet, Summer­ville Orchestra, das Festival d’Aix en Provence, die Washington National Opera. Opera America Discovery Grant 2016. Studium am Curtis Institute of Music. *1985 in Dallas, Texas.


Matthias Schriefl
Jazzkomponist, Bandleader, Multi­instru­menta­list. Mit seinen Bands und als Solist überall in Europa zu erleben. Verar­beitet Volks­musiken vom Allgäu bis Afghanistan. Preis der deutschen Schall­platten­kritik 2012, Förder­preis NRW 2008. Studium in Köln und Amsterdam. *1981 in Maria Rain.


Sarah Nemtsov
Stilistische Vielfalt, inter­natio­naler Erfolg: in Bregenz, Donau­eschingen, MaerzMusik, ECLAT, Holland Festival, Wien Modern, Israel Festival, Bayerische Staats­oper. Busoni­preis 2013, Villa Serpentara 2011. Studium bei Johannes Schöllhorn und Walter Zimmermann. *1980 in Oldenburg.


Hauke Berheide
Oper steht im Zentrum. Arbeiten für die Bayerische Staats­oper, Oper Frankfurt, Duis­burger Phil­harmoniker, Ensemble Modern, Hugo-Wolf-Akademie u. a. Fest­spiel­preis Bayerische Staats­oper 2016, Rompreis 2012, Music Theater Now 2012, Förder­preis NRW 2008. Studium bei Manfred Trojahn. *1980 in Duisburg.


Ulrich A. Kreppein
Klangsinnlich, komplex, expressiv. Carnegie Hall NY, Orchestre national de Belgique, SWR-Orchester Stutt­gart, Staats­theater Olden­burg, Ensemble inter­contemporain. Siemens­förder­preis 2012, Cité des Arts 2018. Studium u.a. bei Manfred Trojahn, Tristan Murail und Helmut Lachenmann. *1979 in Leverkusen.


Jérôme Combier
Erkundet Literatur, verlassene Polar­forschungs­stationen, das moderne Tokyo. Opern, Konzerte, Installa­tionen. Festival d’Aix-en-Provence, Centre Pompidou, Opéra de Lille, Opéra de Lyon. Villa Medici Stipendium 2004-2006. Studium bei Emmanuel Nunes. *1971 in Boulogne-Billancourt.


Régis Campo
Spielerisch, rhythmisch-ener­getisch, melodisch: Inter­national gefeiert und gespielt von Kent Nagano bis Felicity Lott, der Opéra national du Rhin bis zum Beet­hoven­fest Bonn, von Montreal bis Brüssel. Mitglied der Académie des Beaux-Arts. Studierte u.a. bei Gérard Grisey. *1968 in Marseille.


Lucia Ronchetti
Eine der renommiertesten Kompo­nis­t*innen unserer Zeit. Musik­theater und Action Concert Pieces, sprühend vor Esprit und Lust an der Komp­lexität. Staats­opern Stutt­gart, Berlin, Biennale Musica Venezia, Semper­oper, Teatro la Fenice, Oper Frankfurt. Studium u.a. bei Salvatore Sciarrino, Gérard Grisey. *1963 in Rom.


Chaya Czernowin
Ihre feinnervigen Erkun­dungen des Unbewussten begeis­tern bei den Salz­burger Fest­spielen, in der Phil­harmonie de Paris, Deutsche Oper Berlin, Lucerne Festival. Siemens­förder­preis 2003. Lebt in Japan, den USA und Deutschland. Studium u.a. bei Brian Ferneyhough in Berkeley. *1957 in Haifa.


Kaija Saariaho
Finnische Spektralistin von Weltruf. Berliner Phil­harmoniker, Metro­politan Opera, Opéra Bastille, New York Phil­harmonic. Grawe­meyer Award 2000, Musik­preis des Nordischen Rates 2000, Polar Music Prize 2013. Studium bei Magnus Lindberg, Brian Ferneyhough. *1952 in Helsinki.

Zeichnungen: Andrea Winkler
Foto: Kurt Steinhausen, Zartes Erwachen