Musik und Mythos

Die Duisburger Philharmoniker gehen der Beziehung von Mythos und Musik in zwei spannenden Produktionen nach, die im Konzertprogramm beschrieben werden: Emanuele Soavis Tanztheater „Verführer und Verführte“ widmet sich den mythologischen Gestalten Daedalus, Pan und Ariadne; das Musikdrama „IOKASTE“ von Jörg Welke und Stefan Heucke lotet die Figur der thebanischen Königin und Mutter des Ödipus aus.

Schon immer waren Menschen fasziniert davon, Geschichten zu hören, entscheidende Erlebnisse ­späteren Generationen zu übermitteln und sich mit Über­lieferungen ein Gefühl von Gemeinsamkeit zu geben. Auch aus eigenem Erleben kennt man das Vergnügen daran, wenn dabei die Grenzen von Fakten und Fiktionen verschwimmen und wortreich ausgeschmückte Geschichten die eigene Fantasie anregen. Dabei ­ver­ändern sich – durchaus dem Stille-Post-Spiel vergleichbar – die Inhalte immer ein Stückchen weiter, da der Kern der Geschichte mit der eigenen Lebenswelt, den Erwartungen und Wissenshorizonten einer bestimmten Zeit in Beziehung gerät.

Aus historischer Sicht wiederum differenziert sich der Mythos als europäisches Kulturverständnis in viele unterschiedliche Begriffsgeschichten: Unser heutiges Verständnis von Geschichtlichkeit ist relativ jung und setzt erst mit der Aufklärung des späten 18. Jahrhunderts ein, als erste Regeln zur rationalen Dokumentation von Geschichte und Wissen sich herausbildeten. Bis dahin galten die antiken Götter, Helden und Sagen mit ihren symbolischen Konstellationen, menschlichen und göttlichen Konflikten und den von ihnen vertretenen Werten als Kern des Mythos. Mit der Entstehung eines Bewusstseins für die Geschichtlichkeit der eigenen Zeit im Verhältnis zur Vergangenheit der eigenen Kultur reagierte der Mythos auf die Bedürfnisse nach Irrationalität und Fabelhaftes und wandelte sich zu einer Gegenwelt des Fabelhaften und Spekulativen, die in der Romantik zur vollen Blüte kam. Nun sollte die Kunst als autonome Kraft die Gegenposition zur darwinistisch revolutionierten Wissenschaftswelt übernehmen.

Mit der Konstruktion eines Nationalbegriffs von Volk und Kultur im 19. Jahrhundert behielt der Mythos seine enge Verbindung zum Verständnis von Geschichte, da mit den negativen Folgen der rasanten industriellen Revolution und ihrer unaufhaltsamen Veränderung der modernen Gesellschaften das Bedürfnis wuchs, sich die Gründungsgeschichte für eine starke, überlegene Nation gleich selbst zu schreiben und diese unter ideologischen Vorzeichen aus einer vermeintlich naturreligiösen und puristischen Vorzeit herzuleiten. Das ursprünglich auf die Antike des Mittelmeerraums konzentrierte Interesse an einer mythologischen Vorzeit, bei dem die Archäologie in den Rang einer Staatsräson erhoben wurde, suchte sich nun neue Orientierungspunkte im eigenen Umfeld von bildungsbürgerlicher Heimatforschung. Es ist daher kein Zufall, dass in der Zeit des Nationalsozialismus der Mangel an Artefakten als Chance genutzt werden sollte und der forcierte Ausbau der Vor- und Frühgeschichte dazu diente, ein neuheidnisches Germanentum zu konstruieren, dass historisch nicht zu belegen war. Bis heute ist Mythos daher immer auch ein Begriff für all Jenes außerhalb der Geschichte, was als Alltagsmythen ­wahrgenommen wird, mit Fakten aber kaum zu belegen ist und in einer Welt beschleunigter digitaler Kommunikation ideale Verbreitungswege gefunden hat: Von ­Spekulationen über die Ursachen der ­grassierenden Finanzkrise, dem regelmäßig vorhergesagten Welt­untergang, der Erfindung des Alphorns als Schweizer Nationalinstrument, Verschwörungstheorien zu den Terror­anschlägen des 11. September 2011 oder dem Klassiker „Elvis lebt!“ sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt.

Die Brücke vom Mythos zur Musik ist schnell geschlagen und mit Sicherheit kommen jedem von uns hunderte ­Beispiele in den Sinn, wie mit den Mitteln der Musik ­ideale und nüchterne Geschichten zu erzählen sind. Bis zur visuellen Revolution bewegter Bilder auf der Kino­leinwand bot die Welt des Theaters dafür den packendsten Rahmen, da auch hier schon immer Fantasie und idealisierte, bisweilen tragische Götterfiguren mit Anspielungen auf die eigene Gegenwart ineinander aufgingen. Die Entwicklung der Oper zeichnete die ­Kulturgeschichte des Mythos mit relativer Genauigkeit nach und bietet in ihrer Werkgeschichte einen kaum überschaubaren ­Fundus an Heldenstoffen und menschlichen Grundkonflikten, der bei allen Variationen der Themen unterstreicht, dass die leidenschaftliche Beschäftigung der Menschen mit sich selbst und ihren Geschichten bis heute nichts an Faszination verloren hat.

Michael Custodis (Professor für Musik der Gegenwart und Systematische Musikwissenschaft an der WWU Münster)