Interview mit dem Dirigenten Brandon Keith Brown

„Wir erleben afroamerikanische Erfahrung durch das Ohr der Komponistin“

Musikwissenschaftlerin Prof. Dr. Christine Hoppe im Gespräch mit Dirigent Brandon Keith Brown über das Programm des 6. Philharmonischen Konzerts und seine Arbeit mit dem Repertoire Schwarzer Komponist:innen.

CH: Was bedeutet es für Sie, Teil dieses Konzerts mit dem Titel „Silenced Black Voices“ zu sein, das sich explizit mit von Rassismus betroffenen Künstler:innen befasst?

BKB: Anerkennung. Anerkennung der herausfordernden Lebenserfahrung afroamerikanischer Musiker:innen in der westlichen klassischen Musik.

CH: Was ist Ihrer Meinung nach die größte Herausforderung, der wir uns stellen müssen, um die klassische Musik(szene) vielfältiger und inklusiver zu gestalten?

BKB: Stellen Sie sich vor, wie anders die Welt wäre, wenn wir über die Dinge sprechen könnten, die uns am meisten voneinander unterscheiden. Wir müssen ohne Wut, Hass oder voreilige Schlüsse anerkennen, dass es ein Problem ist, als Schwarzer in einem weißen Musikgenre zu arbeiten, und dass es das immer sein wird. Wir müssen anerkennen, dass Ausgrenzung und Marginalisierung nicht die Harmonie schaffen, die für eine gesunde, gerechte Gesellschaft erforderlich ist.

CH: Welche Herausforderungen, Freiheiten oder auch Verantwortungen erleben Sie bei der Aufführung von Werken, die wenig aufgeführt oder dokumentiert wurden und daher keinen Platz im Aufführungskanon haben? Ist die Verantwortung vielleicht besonders groß, wenn Sie Werke von „Silenced Black Voices“ spielen?

BKB: Schwarze Komponist:innen schrieben oft in der Hoffnung, dass ihre Stücke gespielt werden würden. Viele Werke Schwarzer Komponist:innen wurden zu ihren Lebzeiten nur wenige Male aufgeführt, wenn überhaupt. Die Aufführung ihrer Werke heute ist Teil eines Entwicklungsprozesses, der viel schneller voranschreitet als bei einer Beethoven-Sinfonie. Zwar besteht die gleiche Verantwortung wie bei der Aufführung der Werke toter alter weißer Männer, doch es gibt reichlich Gelegenheit, Klang neu zu malen, zu formen und zu gestalten. Dies nimmt den Künstler:innen einen Teil der Last, es „richtig zu machen“.

CH: Wie nähern Sie sich der Musik von Komponisten wie Florence Price, Julia Perry und Joseph de Bologne, die im heutigen Programm vertreten sind?

BKB: Bologne wurde leider als „Schwarzer Mozart“ etikettiert, obwohl er einzigartig ist und keine Bezugnahme auf Mozart (dessen Musik ich auch sehr liebe) erfordert. Dennoch ist er im klassischen Stil, sodass die gleichen stilistischen Regeln gelten. Er hat einen opernhaften Stil mit abrupten, schnellen Stimmungs- und Farbwechseln.

Perry ist scharfzüngig. Ihre Musik ist unbeugsam und charakterstark, ganz wie die Frau. Es ist die Geschichte von Maria und der Ermordung ihres einzigen Sohnes. Sie ist eindringlich und furchterregend und steht auf den drei Säulen der Dreifaltigkeit. Auch wenn Perry selbst das „Stabat Mater“ nie explizit damit in Verbindung brachte, so lassen Thematik und musikalische Verarbeitung es doch naheliegend erscheinen, dass die Komposition als Perrys Kommentar zu den in den 1950er Jahren weitverbreiteten Lynchmorden an unschuldigen schwarzen Männern zu verstehen ist. Das Besondere an der 3. Sinfonie von Price ist, dass sie in der Sinfonie eher die Eindrücke und Klänge des Schwarzen Lebens als die von ihr sonst häufig verwendeten Zitate aus Negro-Spirituals verwendet. Die Zuhörer:innen erleben die afroamerikanische Erfahrung durch ihr Ohr. Deshalb hören wir zum Beispiel im dritten Satz die spanische Habanera. Die war nämlich zu dieser Zeit sehr beliebt und Price nahm Popmusik auf, wie alle US-Amerikaner.

CH: Gibt es Aspekte, die für Sie eine besondere Bedeutung haben?

BKB: Das „Stabat Mater“ ist eine Rarität. Seine musikalische Sprache ist schneidend, rau und schmerzvoll. Aber ist der Mord am einzigen Sohn nicht auch eine schmerzhafte und ätzende Erfahrung? Perry verleiht dem Konzert eine unerschöpfliche Tiefe, ein buchstäbliches Grab aus Tönen, aus dem wir nicht herausgraben können. Deshalb habe ich die Komposition mit den heiteren Klängen Bolognes und Weberns lebensbejahendem „Langsamem Satz“ umrahmt.

CH: Inwieweit muss sich die klassische Musikszene verändern, um für rassistisch marginalisierte Gruppen inklusiver zu werden?

BKB: Wir müssen auch neuen Komponist:innen of Color eine Stimme geben, um ihre gegenwärtigen Lebenserfahrungen zu würdigen. Das ermöglicht es der gesamten Gemeinschaft, sich sowohl im Konzertsaal als auch auf der Bühne wiederzuerkennen.

Intendant:innen, die Programme wie das heutige gestalten, sind selten. Duisburg hat großes Glück, eine Intendanz zu haben, die sich besonders für afroamerikanische Musik interessiert. Doch wann wird es in Deutschland eine:n Schwarze:n Intendant:in geben? Wann werden wir Schwarze Generalmusikdirektor:innen haben? In einer so offenen und gebildeten Gesellschaft sollte das doch bald möglich sein.

CH: Was soll das Publikum aus den Werken und Ihrer Interpretation mitnehmen?

BKB: Das Programm ist eine Achterbahnfahrt, die mit Liebe beginnt, in das Tal des Todes hinabstürzt und wieder zum Leben aufsteigt. Ich bin mir nicht sicher, ob wir eine Farbe aus dem Malkasten weglassen, insbesondere die dunklen.

Im 6. Philharmonischen Konzert am 22. und 23. Januar 2025 stehen Werke von Anton Webern, Julia Perry, Joseph Bologne und Florence Price auf dem Programm. Das Konzert wird für die Mediathek der Duisburger Philharmoniker aufgezeichnet.