„Ich bin zu Ende mit allen Träumen“

Schuberts „Winterreise“ in der Fassung von Hans Zender

Das Sterben dauert fast drei Wochen. Ende Oktober 1828 nimmt Franz Schubert in einem Wiener Gasthaus seine letzte Mahlzeit ein und spuckt sie gleich darauf wieder aus. Bald darauf fesselt ihn das „Nervenfieber“ ans Bett – vermutlich Bauchtyphus, eine Infektionskrankheit, die sich unter den schwierigen hygienischen Bedingungen in der wachsenden Metropole immer wieder epidemieartig verbreitet. Schon Schuberts Mutter ist daran gestorben.

Einen festen Wohnsitz hat der mittellose Komponist seit langem nicht mehr. Anfang September ist er bei seinem Bruder Ferdinand unter­gekommen, der kurz zuvor eine Neubauwohnung im Vorort Wieden bezogen hat. Der Mörtel ist noch feucht, die Miete entsprechend billig. „Trocken­wohnen“ nennt man das damals. Das ungesunde Klima belastet den Kranken zusätzlich, ebenso eine Syphilis-Erkrankung, die sich seit Jahren unheilbar durch seinen Körper frisst. Trotzdem findet er noch Kraft zur Arbeit: Die Druckfahnen zum zweiten Teil der „Winterreise“ müssen korrigiert werden, der Verleger Haslinger will sie noch in diesem Jahr herausbringen.

Am 19. November, einem Mittwoch, um drei Uhr nachmittags ist das Leiden vorbei. Am folgenden Samstag wird Schubert auf dem Währinger Friedhof bestattet, in unmittelbarer Nähe zum Grab Beethovens, bei dessen Beerdigung er im Jahr zuvor noch zu den Fackelträgern gehört hat.

Der Leiermann (Autograf) · Abbildung: Wikimedia / Patachonf

Der Leiermann
„Als wenn das Sterben das Schlimmste wäre, was uns Menschen begegnen könnte!“ Das steht in einem Brief Schuberts an den tyrannischen Vater, um dessen Anerkennung er sein kurzes Leben lang vergeblich kämpft. Für die Helden seiner beiden großen Liederzyklen „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“ ist der Tod geradezu eine Erlösung: Der liebes­kranke Müllerbursche geht am Ende in den Bach, der ihm ein sanftes Wiegenlied singt: „Gute Ruh’, gute Ruh’, tu’ die Augen zu“. Der einsame Wanderer der „Winterreise“ dagegen sehnt den Tod vergeblich herbei: Er muss immer weiterziehen, vielleicht bald an der Seite jenes wunderlichen Leier­mannes, der hinterm Dorfe mit froststarren Fingern sein ärmliches Instrument dreht. Und dreht und dreht.

Den ersten Teil der „Winterreise“ komponiert Schubert im Februar 1827. Die literarische Vorlage, zwölf Gedichte des Dessauer Hof­bibliothekars Wilhelm Müller, hat er kurz zuvor in einem Almanach entdeckt. Erst später erfährt er, dass Müller dem Winter-Wanderer noch zwölf weitere Gedichte in den Mund gelegt hat; sie werden im Herbst 1827 vertont. Anders als bei „Die schöne Müllerin“ folgt Schubert also keineswegs von Anfang an einer zyklischen Gesamtkonzeption. Allerdings gibt es in der „Winterreise“ auch keine durchgehende Handlung, keine Geschichte, die in den Liedern reflektiert und kommentiert wird. Nicht einmal die im Titel angegebene Reise ist nachvollziehbar: Im Grunde kommt der Wanderer überhaupt nicht voran; er bewegt sich in Kreisen, in Spiralen – wie jeder, der vor sich selbst davonläuft. „Der einzige Fortschritt des Wanderers ist ein Fortschritt der Erkenntnis“, bemerkt Peter Gülke in seiner Schubert-Biografie treffend.
 

Romantik im Polizeistaat
Was erfahren wir überhaupt über diesen Wanderer? Offenbar flieht er vor einer Beziehung, die ihn einengte. „Das Mädchen sprach von Liebe, die Mutter gar von Eh’“, heißt es gleich im Eingangslied. Eine bittere Satire auf den soliden bürgerlichen Lebens­entwurf liefert die Nummer 13: „Es bellen die Hunde, es rasseln die Ketten; es schlafen die Menschen in ihren Betten.“ Aber es gibt auch das andere, die tiefe Sehnsucht nach den Wurzeln, nach Halt und Anker, wovon das berühmteste Lied der „Winterreise“ erzählt: „Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum.“

Der Zwiespalt, der sich hier ausdrückt, kenn­zeichnet die gesamte Epoche: Im Polizeistaat des Fürsten Metternich sind alle Hoffnungen auf ein neues, „aufgeklärtes“ Europa geschwunden, auf ein Europa, das frei ist von Despotie und Zwang, frei im Denken, frei in der Kunst. Der Rückzug in die romantische Innerlichkeit geschieht mit schlechtem Gewissen und in dem Bewusstsein, das es „so“ nicht weitergehen kann. Schubert ist zwar nicht politisch aktiv wie viele seiner Künstlerfreunde, die gegen die Obrigkeit aufbegehren. Aber als der Dichter Johann Chrysostomos Senn 1820 aus der Kneipe heraus verhaftet wird, ist auch Schubert vor Ort und wird durch „Verbal­injurien und Beschimpfungen“ gegen „den amt­handelnden Beamten“ aktenkundig.
 
 

Schubert und Schrammeln
„Ich bin zu Ende mit allen Träumen“, sagt Schuberts Winter-Wanderer. Er ist keineswegs nur ein romantischer Melancholiker, der seinen poetischen Weltschmerz kultiviert. Ihn treibt ein fataler, selbstzerstörerischer Impuls voran. In allem, was er sieht, entdeckt er Zeichen des Untergangs. Mit dem Raureif auf dem Kopf fühlt er sich wie ein weißhaariger Greis. Eine Krähe, die neben ihm herfliegt, scheint es auf seine Leiche abgesehen zu haben. Der Wegweiser auf der Straße weist ihm den Weg ins Totenreich. Selten gibt es Aufwallungen von Tatkraft – und wenn, sind sie von Bitterkeit und Trotz geprägt: „Will kein Gott auf Erden sein, sind wir selber Götter.“

Die zeit- und gesellschaftskritischen Aspekte der „Winterreise“ spielten in der Rezeption lange Zeit nur eine untergeordnete Rolle. Die Darstellung eines individuellen Schicksals, einer durch persönliches Leid zerstörten Seele, schien die Interpreten mehr zu interessieren. Mittlerweile sieht man das anders – dafür stehen auch die zahlreichen Bearbeitungen, Überschreibungen und Neufassungen, die der Zyklus gerade in den letzten Jahren erfahren hat.

Arrangements der Klavierbegleitung für Gitarre oder Drehleier führten die „Winterreise“ auf ihre Wurzeln in der österreichischen Volksmusik-Tradition zurück. Der Wiener „Extremschrammler“ Roland Neuwirth rückte Schuberts Liedern mit rauer Stimme, Geige, Gitarre und Akkordeon zu Leibe. Schauspieler und „Polizeiruf“-Kommissar Charly Hübner kombinierte den Zyklus mit Liedern des australischen Rockmusikers Nick Cave und konstruierte dazu eine Handlung, die das Opfer zum Täter, den Leidenden zum Schuldigen macht. In der Fassung des multikulturell besetzten Ensembles Asambura wurde die „Winterreise“ zum Spiegel der Flüchtlingsströme auf dem Mittelmeer.

Existentielle Wucht
Vorläufer all dieser kritisch kommentierenden und alte Hörgewohnheiten aufbrechenden Versionen ist fraglos Hans Zenders „komponierte Interpretation“ der „Winterreise“, die 1993 in Frankfurt aus der Taufe gehoben wurde. Schon die Kammerorchester-Besetzung mit hohem Schlagzeug-Anteil löst das Werk aus der zuweilen etwas hermetisch wirkenden Intimität des Liederabends. Zenders Version bringt verborgene Stimmen ans Licht, schafft Raumwirkungen, macht in Schuberts Notentext auf faszinierende Weise Zukünftiges hörbar. Bruckner und Mahler, ja sogar Schönberg und Webern kündigen sich an: Romantik aus dem Geist der Avantgarde.

Dieser Ansatz erklärt sich natürlich auch aus Zenders „Doppelexistenz“ als Komponist und Dirigent. Skeptisch gegenüber der Idee einer „texttreuen“ Interpretation macht der 2019 gestorbene Musiker seine ganz eigene Perspektive auf das Werk hörbar, protokolliert seinen persönlichen Prozess der Aneignung und Auseinandersetzung in klingender Form.

Zugleich rückt er damit auch das radikal Neue und Revolutionäre der „Winterreise“ in den Fokus. „Es wird berichtet“, so schreibt Zender, „dass Schubert während der Komposition dieser Lieder nur selten und sehr verstört bei seinen Freunden erschien. Die ersten Aufführungen müssen eher Schrecken als Wohlgefallen ausgelöst haben. Wird es möglich sein, die ästhetische Routine unserer Klassiker-Rezeption, welche solche Erlebnisse fast unmöglich gemacht hat, zu durchbrechen, um eben diese Urimpulse, diese existentielle Wucht des Originals neu zu erleben?“

6. Philharmonisches Konzert

Duisburger Philharmoniker
Axel Kober Dirigent
Klaus Florian Vogt Tenor

Hans Zender
Schuberts „Winterreise“
Eine komponierte Interpretation für Tenor und kleines Orchester

Mi 19. / Do 20. Januar 2022, 19.30 Uhr
Philharmonie Mercatorhalle

Foto Hans Zender: Astrid Ackermann
Schubert-Autograf: Wikimedia / Patachonf

Franz Schubert, Lithografie von Josef Kriehuber · Abbildung: Wikimedia / Rettinghaus

Franz Schubert, Lithografie von Josef Kriehuber
Abbildung: Wikimedia / Rettinghaus