Haben Sie sich schon einmal von D-Dur erlösen lassen?
Dazu hätten Sie jetzt, im 10. Philharmonischen Konzert, Gelegenheit. In Arnold Schönbergs „Verklärter Nacht“, komponiert in der Grundtonart d-Moll, geschieht nämlich dieses musikalische Erlösungs-Wunder, und zwar auf so rührende und ergreifende Art, dass sich keine fühlende Seele dieser Erschütterung entziehen kann.
Kurz zu Richard Dehmels Gedicht, das dem Werk inspirierend zugrunde liegt: Ein Liebespaar geht durch eine mondbeschienene Nacht. Sie eröffnet ihrem Geliebten, dass sie von ihrem Ehemann – dem fremden, dem falschen Mann – ein Kind erwartet. In äußerster Verzweiflung glaubt sie, nun von dem richtigen, dem geliebten Mann abgelehnt und fallengelassen zu werden. Der aber erweist sich als wahrhaft Liebender und verspricht, das Kind als sein Eigenes anzunehmen.
Das Thema wird im Gedicht in einer äußert kunstvollen Durchdringung und gegenseitiger Spiegelung von Natur und menschlichen Gefühlen poetisch interpretiert. Zu den fünf Strophen dieses Gedichts hat der 24jährige, noch durchaus tonal orientierte Arnold Schönberg gewissermaßen die „Filmmusik“ geschrieben – und zwar so präzise, dass man glaubt, die beiden Verliebten wie im Film vor dem geistigen Auge durch die Mondnacht wandern zu sehen.
Nun aber zur Eingangsfrage, zur Erlösung in Dur. Wird die wilde Violinenzerissenheit und wehe Verzweiflung beim Bekenntnis der Frau in den Tonarten d-Moll, b-Moll und c-Moll dramatisch entfaltet, gibt es auch hier schon eine kleine ergreifende Vorwegnahme der Erlösung: Nach etwa sechseinhalb bis sieben Minuten – das hängt vom Tempo Axel Kobers ab – löst sich die unerträgliche Spannung in reinstem E-Dur auf. Für diese Sekunde, diesen feierlich-innigen E-Dur-Akkord, der wie eine große Klangblüte in atemberaubender Schönheit aufbricht, würde es sich schon alleine lohnen, am 26. oder 27. April die Philharmonie Mercatorhalle zu besuchen. Aber es kommt noch besser.
Die vollkommene inhaltliche wie musikalische Verklärung vollzieht sich im vierten Teil, im dem der Mann in Harmonie mit der schimmernden Schönheit der Natur zur Apotheose der Liebe findet und das sich anklagende „Ich“ der Frau aus der zweiten Strophe zum liebevoll angenommenen „Du“ macht. Die Stimme des Mannes übernimmt das Cello, warm, ernst, tief, langsam. Alles erscheint plötzlich in einem neuen, glanzvollen D-Dur-Licht, in dem sich die tragische Situation der beiden verklärt – eingeleitet durch einen langen, herzerwärmenden Dur-Akkord (nach ca. 15 Minuten). Alles bisher Gehörte wird dem Zuhörer wie ein großer musikalischer Blumenstrauß in den Arm gelegt, jetzt ins Liebevolle, Freundliche und Hoffnungsvolle gewendet. Wer diese Geschichte live erleben möchte: Willkommen zum 10. Philharmonischen Konzert!