Christoph Böll

Gustav Mahler und das Riesenrad

Der Filmemacher Christoph Böll poetisiert mit seinen Dokumentationen die Wirklichkeit

Die Kamera setzt sich in Bewegung. Sie ­verliert den Boden aus dem Blick, zeigt einen Jahrmarkt, den Himmel, schwebt wieder abwärts. Der Filme­macher Christoph Böll hat für seinen Film „­Kirmes“ die Kamera an der Kabine eines Riesen­rades befestigt. Sie arbeitete sozusagen alleine, ohne dass der Fokus oder die Schärfe verändert wurde. Später hat ­Christoph Böll die Bilder bearbeitet, ließ die Lichter verschwimmen und wieder klarer werden, ­montierte andere Beobachtungen auf der Kirmes in den Film hinein. Dazu erklingt das Adagio aus der vierten ­Sinfonie Gustav Mahlers. „Ruhevoll“ lautet die Satzbezeichnung, aber das trifft nur auf den Anfang zu. Schnell bröckelt die Stimmung, es gibt bedrohliche, dramatische, auch heitere Momente. Mit den Filmbildern entsteht ein Rausch der Gefühle, aus ­Farben und Musik.

Diese Arbeitsweise ist typisch für den 1949 geborenen Christoph Böll. Er dokumentiert Wirklichkeit, den Abbruch einer Kirche in Bochum zum Beispiel. In seinem Blickwinkel werden daraus zauberhafte, überwältigende, emotionale Momente. „­Sinnliche Dokumentationen“ – so bezeichnet der Filme­macher selbst sein Schaffen. Das begann schon früh, als Student an der Ruhr Universität Bochum, als er aus dem Studentenwohnheim die Betonwüste filmte. „Wie schön ist doch der Blick aus meinem Fenster“ heißt dieser Film und wahrhaftig entstehen hinreißende Augenblicke. Im Sonnenuntergang, oder wenn Böll eine Kerze auf die Fensterbank stellt. Es ist ein liebevoller Blick auf die Welt, voll subtiler Ironie und leisem Witz, oft distanziert, niemals ablehnend.

Christoph BöllChristoph Böll ist auch ein Meister des Gesprächs. Er nimmt sich Zeit, fragt behutsam, ohne zu drängen und lässt die Menschen vor der Kamera zu sich und ihren Geschichten finden. So hat er ein riesiges Konvolut an Gesprächen über den legendären Bochumer Kunsthistoriker Max Imdahl zusammen­getragen. Museumsleiter sind Böll dabei genauso wichtig wie ein Gärtner an der Ruhr-Uni. „Eigentlich liebe ich die Menschen“, sagt der Filmemacher mit einem angedeuteten Lächeln in den Mundwinkeln. „Obwohl es manchmal schwer ist. Eigentlich könnte man über jeden einen Film drehen. Jeder hat sein eigenes, wertvolles Leben.“

Vor kurzem ist einer von Bölls Spielfilmen auf DVD erschienen. „Der Sprinter“ von 1984, eine Satire über den Spitzensport, aber auch ein schräges Melodram über einen jungen Mann, der bitte schön nicht mehr schwul sein soll. Mit dem deutschen ­Walkürenwesen und den Überbleibseln des Nationalsozialismus hat sich Christoph Böll damals beschäftigt. Vielleicht ein bisschen in der Tradition seines Onkels Heinrich, mit dem ihn sonst aber wenig verband. Nun hat er mit den „sinnlichen Dokumentationen“ zu sich selbst gefunden. Christoph Böll verzaubert die Realität vielleicht nicht, das wäre zu kitschig formuliert. Er poetisiert sie. Denn die Poesie kann ja alles enthalten, Trauer, Freude, Raserei, Melancholie und Witz. So wie die Filme von Christoph Böll.

Stefan Keim