Neue Klänge aus dem Norden

Vor 150 Jahren wurden Carl Nielsen und Jean Sibelius geboren

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Carl Nielsen

Sie sind die beiden größten Sinfoniker Nordeuropas – zwei kühne, eigenwillige Meister, die fernab der großen Schulen und Strömungen ihren Weg in die Moderne fanden. Die Duisburger Philharmoniker stellen ihre wichtigsten Werke vor.

Jeder im Städtchen Nørre Lyndelse kennt den Maler Niels, der mit seiner Familie in einem einfachen Landarbeiterhaus auf dem Feld lebt. Unter der Woche verdingt er sich als Anstreicher, samstags holt er den Geigenkasten aus der Ecke und spielt mit seiner Kapelle in den umliegenden Kneipen zum Tanz. Zwölf Kinder bringt seine Ehefrau Maren zur Welt; das siebte wird am 9. Juni 1865 geboren. Zum Vornamen Carl erhält der Neuankömmling den Vatersnamen Nielsen – Familiennamen gibt es damals noch nicht bei den einfachen Leuten auf der Insel Fünen, Dänemarks grüner Lunge.

Später, als angesehener, wohlbestallter Musiker, wird sich Carl Nielsen seiner Kindheit in einem wunderbaren Buch erinnern („Meine Kindheit auf Fünen“). Der Komponist ist weit davon entfernt, das harte Leben auf dem Land zu verklären. Aber er ist sich sehr wohl bewusst, wie es ihn prägte, seine Künstlerpersönlichkeit formte: Das häusliche Musizieren, das Geigenspiel in der väter­lichen Kapelle, die Zeit als Militärtrompeter in Odense, wohin sich der gerade mal 14-jährige 1879 aufmacht.

Im Vergleich zu Nørre Lyndelse hat die südfinnische Provinzmetropole Hämeenlinna um 1865 geradezu weltstädtisches Flair. Hin und wieder kommen die Orchester aus Helsinki und Turku zu Gastspielen herüber. Zum kulturellen Leben tragen auch die Familien der russischen Offiziere bei, die hier stationiert sind. Finnland ist seit 1809 russisches Großfürstentum, davor gehörte es Jahrhunderte lang zu Schweden. Die Republik Finnland gibt es noch nicht – sie wird erst 1917 in den Nachwehen der russischen Oktoberrevolution ausgerufen.

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Jean Sibelius

Am 8. Dezember 1865, fünf Monate nach Carl Nielsen, kommt hier Jean Sibelius zur Welt. Die Familie ist schwedisch­sprachig und gehört zur bürgerlichen Mittel­schicht. Nach dem frühen Tod des Vaters, der als Arzt praktizierte, verbringt Sibelius seine Jugend abwechselnd in Hämeenlinna und bei den Großeltern auf den Schäreninseln vor der Küstenstadt Loviisa.

Soundtrack einer untergehenden Epoche

Wunderkinder sind sie beide nicht. Nielsen, der schon von frühester Kindheit an Geige spielt, schafft es immerhin nach seinem Studium am Konservatorium in Kopenhagen zu einer Violinstelle in der Königlichen Kapelle, deren Dirigent er später wird. Mit Sibelius’ Violinspiel ist es weniger gut bestellt: In seiner Jugend genießt er nur einen unsystematischen Unterricht, dessen Mängel sich beim Studium in Helsinki kaum mehr ausgleichen lassen. An eine Karriere als Interpret ist nicht zu denken. Sibelius muss sich von Anfang an als freischaffender Komponist durchschlagen. Er hat im Grunde nie von etwas anderem als von seinem Werk gelebt – unterstützt durch ein bescheidenes Staatsstipendium, das ihm seit 1894 gewährt wird.

Vor diesem Hintergrund ist die Fülle an Neben­arbeiten verständlich, die Sibelius zusätzlich zu seinen Hauptwerken schafft: Kantaten für festliche Anlässe, Lieder, Klavierstücke, viele Hefte einer gediegenen Salon- oder Gesellschaftsmusik, wie sie in den musik­sinnigen Amateur­zirkeln ganz Europas nachgefragt werden. Man kann diese „Brotarbeiten“ freilich nicht von seinen bedeutenden Werken trennen – hier wie dort ist Sibelius ein Kind seiner Zeit, die von Skepsis und Zerfalls­stimmung des „Fin de siècle“ geprägt wird. Davon kündet auch sein fraglos berühmtestes (und einträglichstes) Werk: Der 1904 komponierte „Valse triste“ wird in seiner morbiden Eleganz gewissermaßen zum Soundtrack einer unter­gehenden Epoche. Sibelius lässt sich aber zugleich auch willig einspannen in die finnische Unabhängigkeits­bewegung, der er mit seiner sinfonischen Dichtung „­Finlandia“ 1899 ein tönendes Denkmal setzt. Damit steigt der 34-jährige fast über Nacht in den Rang eines finnischen Nationalkomponisten auf. Dass er nicht einmal die künftige Landessprache flüssig spricht, wird dabei großzügig übersehen.

Neuerer aus Entschluss und Zweifel

Carl_Nielsen_at_Vodroffsvej-public-domain-700x500pxIn Kopenhagen geht es unterdessen sehr viel bodenständiger zu. Von überreizter Feinnervigkeit ist der junge Carl Nielsen ebenso weit entfernt wie von flammendem Freiheitspathos. Er will eine Musik schreiben, „die wie ein reines und scharfes Schwert ist, schneidend und leicht fasslich.“ Seine frühen Sinfonien lösen diesen Anspruch mustergültig ein: die jugendlich-feurige „Erste“, die „Zweite“ mit ihren scharf geschnittenen Charakter­bildern, die expansive „Dritte“, in der auch die menschliche Stimme zum Instrument wird.

Trotz aller Unterschiede in Stil und Persönlichkeit verweist ein unverkennbar „nordischer“ Ton beide Komponisten zunächst noch in den Dunstkreis der nationalen Schulen des 19. Jahrhunderts. Sibelius hat diesen Ton besonders in seiner eindrucksvollen Sinfonie Nr. 2 und dem stimmungsvoll-melancholischen Violinkonzert kultiviert – beide Werke stehen in dieser Spielzeit auf den Programmen der Philharmonischen Konzerte. Besonders reizvoll ist der Vergleich zum Violinkonzert von Carl Nielsen, das gleichfalls in diesem Rahmen zu hören ist. Hier vermitteln sich die folkloristischen Elemente noch ganz ungebrochen, mit schlichten, kreisenden Melodien und tänzerischem Schwung.

An gediegener Traditionspflege haben beide Komponisten indes nicht das geringste Interesse; vielmehr gelingt es ihnen, sich fern des mitteleuropäischen Mainstreams ihren jeweils ganz eigenen Weg in die Moderne zu bahnen. Den entscheidenden Schritt dazu tut Nielsen in seiner vierten Sinfonie, die in dieser Spielzeit auch in Duisburg gespielt wird: Ein Werk der Brüche und Aus­brüche, des Widerstreits zwischen destruktiven und schöpferischen Energien. Parallel dazu entwickelt Sibelius die faszinierenden Feldstrukturen seiner fünften Sinfonie: Schichten und Schollen, die sich verschieben, überlagern und konflikt­freudig ineinander verkeilen. Zur Tradition zeigen beide Meister dabei ein höchst gegensätzliches Verhältnis: Nielsen wirft rigoros über Bord, was er nicht mehr braucht. Sibelius prüft und befragt, dehnt und streckt das Modell der klassisch-romantischen Sinfonie, bis es ihm unter den Händen zerreißt. Beide Komponisten sind große Neuerer – Nielsen ist es aus Entschluss, Sibelius aus Zweifel.

Der Mythos der achten Sinfonie

Der Zweifel ist es wohl auch, der Jean Sibelius allzu früh verstummen lässt. Mit der hymnischen Sinfonie Nr. 7 (1924) und der eindrucksvoll kargen Tondichtung „­Tapiola“ (1926) entstehen seine letzte Meisterwerke. Bis 1930 folgen noch Bearbeitungen früherer Werke und verstreute Miniaturen, dann versiegt der Strom.

Carl Nielsen beendet sein Lebenswerk etwa zur gleichen Zeit, aber er stirbt bereits 1931 in Kopen­hagen. Sibelius lebt noch bis 1957 auf seinem Landgut Ainola nördlich von Helsinki – und schweigt.

Sibelius in Ainola, 1907Schweigt er wirklich? Durch die Musikgeschichte geistert ein Mythos, ein Gerücht, so unbewiesen wie unausrottbar. Es soll, so heißt es, eine achte Sinfonie existieren oder zumindest existiert haben. Sibelius selbst sprach immer wieder von dem Projekt, das er angeblich mehrfach vollendete und wieder verwarf. 1945 hat er dann, so wird berichtet, das gesamte Material im Kamin verbrannt, überzeugt vom Versiegen seiner schöpferischen Kräfte. Vor einigen Jahren tauchten Skizzen auf, die mit dem Werk in Verbindung gebracht werden. Ein finnischer Musikologe erstellte mit viel spekulativer Phantasie eine Partiturversion, die aufgeführt und aufgenommen wurde. Man kann sie sogar bei Youtube hören: Vier Minuten spannender, verheißungsvoller Musik, aber kein erkennbares Konzept. Das Werk, wenn es denn je bestand, bleibt verloren.

1000 Seen oder 1000 Löcher?

Jean_Sibelius_1930s-public-domain-374x500pxSibelius polarisiert – das war schon zu seinen Lebzeiten so und daran wird sich auch zu seinem 150. Geburtstag nichts ändern. „Sinfonien sind keine 1000 Seen, auch wenn sie 1000 Löcher haben.“ Mit diesem bösen Bonmot würzte Theodor W. Adorno 1939 seine infame „Glosse über Sibelius“. Die deutsche Avantgarde schloss sich ihrem Chefideologen in der Ablehnung des finnischen Meisters an. Sein Ringen um eine individuelle Form wurde als Unvermögen, seine eigenwillige Klangsprache als provinzielle musikalische Landschaftsmalerei missdeutet. Ganz anders in Großbritannien und den USA: Hier setzten sich schon zu Sibelius’ Lebzeiten bedeutende Dirigenten wie John Barbirolli oder Eugene Ormandy für seine Musik ein, die heute unverrückbar zum sinfonischen Kernrepertoire gehört.

Carl Nielsens internationaler Ruhm ließ deutlich länger auf sich warten. Im Grunde war es erst das Digitalzeit­alter, das die machtvollen und urwüchsigen orchestralen Visionen des Dänen in die CD-Player entdeckungs­lustiger Musikfreunde trieb. In deutschen Konzertsälen ist seine Musik gleichwohl bis heute nicht recht heimisch geworden. Aber vielleicht setzt der Nielsen-Zyklus der Duisburger Philharmoniker unter Leitung von GMD Giordano Bellincampi hier ein Zeichen des Aufbruchs?

Stefan Rütter

Fotos: Wikimedia.org
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